Transgender im Frauensport: warum Caitlyn Jenner gegen ihresgleichen kämpft (2024)

Caitlyn Jenner ist vieles, was amerikanische Konservative verabscheuen: Transfrau, mehrfach geschieden und Trash-TV-Star. Wie sie dennoch zur Galionsfigur im Kampf gegen «biologische Männer» im Frauensport wurde.

Esthy Baumann-Rüdiger

8 min

Neue Vorlese-Stimmen

Eine verbesserte Vorlesefunktion steht zur Verfügung. Probieren Sie es aus!

Drucken

Transgender im Frauensport: warum Caitlyn Jenner gegen ihresgleichen kämpft (1)

Bruce Jenner ist pure Männlichkeit. Als seine Gegner im Ziel vor Erschöpfung am Boden liegen, dreht er eine Ehrenrunde. Jenner, ein Muskelpaket mit Beatles-Frisur, wirft siegestrunken die Hände in die Höhe. Seine Frau Chrystie, in Tränen aufgelöst, steigt über die Abschrankung und umarmt ihren Mann.

Es sind die Olympischen Spiele 1976 in Montreal. Jenner, 26, hat soeben Gold im Zehnkampf gewonnen, jener Disziplin, die Athleten so sehr ans Limit bringt, dass sie ausschliesslich Männern vorbehalten ist. Nun hat er nicht nur den Sieg geholt, sondern auch den Weltrekord gebrochen – und damit mitten im Kalten Krieg den bisherigen Rekordhalter aus der Sowjetunion bezwungen.

«The World’s Greatest Athlete» ist geboren. So betitelt ihn damals das «Time Magazine».

Am Morgen danach steht Bruce Jenner im Badezimmer seines Hotels. Er trägt nichts als die Goldmedaille um den Hals. Wie er sich nackt im Spiegel betrachtet, sagt er: «Was zur Hölle habe ich getan? Habe ich Bruce nun so gross gemacht, dass ich für den Rest meines Lebens mit ihm festsitze?» Jenner wird die Episode viele Jahre später in Interviews mehrfach erzählen. Was damals niemand weiss: Er führt nicht nur einen Kampf im Stadion. Er führt einen noch viel grösseren Kampf mit sich selbst. Bruce Jenner, Amerikas Inbegriff für Männlichkeit, fühlt sich als Frau.

Zielscheibe der Linken, Liebling von Fox News

Die meisten erinnern sich nicht an Bruce Jenner als Olympiasieger. Die jüngere Generation kennt ihn als etwas spiessigen (Stief-)Vater in der Reality-Show «Keeping Up with the Kardashians». Inzwischen aber ist Bruce Caitlyn, die wohl berühmteste Transfrau der Welt. Vor acht Jahren, Bruce war damals 65 Jahre alt, hat er sich entschieden, als Frau zu leben.

Eigentlich wäre Caitlyn Jenner prädestiniert als Botschafterin für das woke Amerika: Sie war ein vermeintlich gestandener Mann, der die eigene (toxische) Maskulinität abgelegt hat. Und sie geht sehr offen mit ihrer Geschlechtsumwandlung um.

Zugleich wäre Caitlyn Jenner das ideale Feindbild der US-Konservativen: Sie ist eine Transfrau, dreifach geschieden und Teil einer trashigen Reality-Show, die für vieles, aber nicht für das bürgerliche Amerika steht.

Tatsächlich aber ist das Gegenteil von alledem passiert. Caitlyn Jenner gilt den Transaktivisten als Verräterin. Auf der anderen Seite beklatschen US-Republikaner die Auftritte von Jenner: Sie loben sie als «Stimme der Vernunft». Caitlyn Jenner war zunächst ein regelmässiger Gast beim konservativen Sender Fox News, im vergangenen Jahr stellte der Sender sie gar als Kommentatorin ein. Die CEO Suzanne Scott erklärte: «Caitlyns Geschichte ist eine Inspiration für uns alle.»

Hormone können männliche Pubertät nicht ausgleichen

Caitlyn Jenner ist zu einer einflussreichen Stimme in einer Frage geworden, die die Gesellschaft derzeit spaltet wie kaum eine andere: Sollen Transfrauen im Sport gegen andere Frauen antreten dürfen? Jenner hat, was den meisten Beteiligten an beiden Fronten fehlt: die Legitimation, für beide Seiten zu sprechen.

Doch wenn Caitlyn Jenner sich zum Thema äussert, und das tut sie derzeit oft, würden ihr Transaktivisten diese Legitimation am liebsten absprechen. Denn Jenners Haltung ist deutlich – und sie wird in der LGBTQ-Community nicht toleriert. Jenner sagt: «Wir können keine biologischen Jungs im Frauensport antreten lassen.»

Caitlyn Jenner, Transfrau mit olympischer Goldmedaille, hat sich zur Mission gemacht, den Frauensport vor ihresgleichen zu schützen. Im April lancierte sie die Initiative «Fairness First» – und facht den Streit darum, wer als Frau gelten darf, weiter an.

Im Zentrum der Debatte stehen Fälle wie jener der Transgender-Schwimmerin Lia Thomas. Sie sorgte für einen Skandal, als sie vergangenes Jahr die College-Meisterschaft der Frauen gewann. Bis 2019 war sie noch als Mann gestartet. Die anderen Frauen seien um den Sieg betrogen worden, hiess es. Wenige Wochen später gab der Weltverband der Schwimmer unter grossem Druck der Öffentlichkeit bekannt, Transpersonen von Frauenanlässen auszuschliessen. In den vergangenen Monaten zogen der Leichtathletikverband und der englische Ruderverband nach.

Transgender im Frauensport: warum Caitlyn Jenner gegen ihresgleichen kämpft (2)

Jenner hat eine klare Meinung zu Athleten wie der Schwimmerin Lia Thomas, die sich als junge Männer einer Geschlechtsumwandlung unterziehen: «Ich sehe sie an und frage mich: Wie kann sie sich gut fühlen dabei, Frauen die Trophäe wegzunehmen? Es ist einfach falsch.»

Caitlyn Jenner bezeichnet sich selbst als «Vertreterin des gesunden Menschenverstands»: Keine Hormontherapie der Welt könne aufheben, was eine männliche Pubertät in einem Körper bewirke. Lia Thomas habe ein grösseres kardiovaskuläres System, längere Arme und Beine und mehr Muskelmasse als biologische Frauen.

Jenner weiss, was es heisst, als Frau einen Körper zu haben, der die männliche Pubertät durchlebt hat: «Ich nehme seit über zehn Jahren Hormone und schlage den Golfball noch immer fast 300 Yards weit», erzählt sie in einem Podcast. 300 Yards gelten als Spitzenmarke unter Golfern. «Und die fehlenden Yards schreibe ich meinem Alter zu.»

Jenner betont: «Ich bin keine biologische Frau, und das erkenne ich an.» Zur Transition gehöre auch Verantwortung. Fairness zähle mehr als Gleichheit. An einem Golfturnier für Frauen würde sie deshalb niemals teilnehmen. «Das hat für mich mit Würde und Respekt zu tun. Mir selbst, aber auch anderen Frauen gegenüber», sagt Jenner. «Ich werde nie gleich sein wie sie.»

«Bruce» ist die Rolle seines Lebens

Nicht gleich zu sein, dieses Gefühl begleitet Caitlyn Jenner ihr ganzes Leben. Erzählt sie von der Vergangenheit, spricht sie von Bruce, von «ihm». Sie wolle nicht tun, als hätte es ihn nie gegeben. Bruce wuchs in einer bürgerlichen Mittelklassefamilie in den Suburbs von New York auf. Schon in seiner Jugend fragt er sich, wie es sich wohl anfühlen würde, «jeden Tag aufzuwachen und sich selbst sein zu können». Immer wieder schleicht er sich ins Zimmer seiner Mutter und zieht ihre Kleider an. Es sind kurze Momente der Freiheit.

Die Schule fällt Jenner schwer, er ist Legastheniker. Der Sport ist seine Flucht. Bereits in der Highschool wird er Most Valuable Player, wertvollster Spieler, und zwar im Basketball-, im Football- und im Leichtathletikteam. 1972 nimmt er erstmals an Olympischen Spielen teil; er wird Zehnter. Bei der Siegerehrung schwört er sich, zurückzukehren und zu gewinnen. «Wäre ich ein durchschnittlicher Junge gewesen, hätte ich den Sport nicht gebraucht», sagt er in einer Netflix-Doku über seine Transformation. «Aber ich war anders. Ich musste mir etwas beweisen. Also baute ich die Bruce-Figur auf.»

Die Bruce-Figur lässt sich vermarkten: Nach seinem Olympiasieg 1976 reissen sich Firmen wie Coca-Cola oder der Müeslihersteller Wheaties um den Champion. Als einer der ersten Athleten überhaupt wird Jenner zur lukrativen Werbefigur.

Doch Bruce ist nicht nur Sportler, sondern auch Ehemann und Vater. Vor Olympia heiratet er seine College-Liebe Chrystie, sie bekommen ein Kind. Doch immer wieder stellt sich Bruce vor, wie es wäre, eine Frau zu sein. Irgendwann teilt er die Gedanken mit Chrystie. Er stösst auf Unverständnis. Das Paar trennt sich, als es das zweite Kind erwartet.

Doch noch hält Bruce an der Bruce-Figur fest. In den 1980er Jahren heiratet er die Schauspielerin Linda Thompson, eine Ex-Freundin von Elvis Presley. Die beiden bekommen zwei weitere Kinder, dann lassen sie sich scheiden. Viel später wird er erzählen, dass sein innerer Kampf auch hier zur Trennung beigetragen habe. Jenner fällt in eine schwere Depression.

Die erste Umwandlung bricht er ab

Was dann passiert, wird die Öffentlichkeit erst dreissig Jahre später erfahren: Bruce Jenner nimmt einen ersten Anlauf zur Geschlechtsumwandlung. Er schluckt Hormone, lässt sich den Bart chemisch entfernen und die Nase verschmälern. Er ist auf dem Weg, eine Frau zu werden, als er Kris Kardashian kennenlernt. Als Ex-Frau des Anwalts von O.J. Simpson gehört sie den Celebrity-Kreisen Hollywoods an. Ihr gelingt es, die Lebenslust in Bruce wiederzuerwecken. Er ist 41 Jahre alt und entscheidet sich, Bruce zu bleiben. Vorerst. Sie heiraten, beide bringen vier Kinder in die Ehe; später werden sie zwei gemeinsame Töchter bekommen.

Bruce Jenners Popularität ist damals, Anfang der 1990er Jahre, auf dem Tiefpunkt. Amerika hat seine Ikone vergessen. Also macht Kris das, wofür sie später bekannt sein wird: Sie vermarktet ihre Familie. Kris lässt Bruce Bücher schreiben und Vorträge halten. Sie gibt den USA ihren Champion zurück. Im Verborgenen wird Bruce immer wieder Momente in Freiheit geniessen und Frauenkleider anziehen. Seine Frau ist einverstanden, solange sie nichts davon sehen muss.

2007 fällt der Startschuss zur Reality-Karriere. Am Anfang steht ein Video, das Jenners Stieftochter Kim Kardashian beim Sex zeigt. Kris Kardashian versteht es, daraus Kapital zu schlagen, und handelt einen Deal für eine Reality-Show aus.

Wenige Monate später wird die erste Folge von «Keeping Up with the Kardashians» ausgestrahlt. Millionen von Menschen schauen dem Clan während zwanzig Staffeln dabei zu, wie er dem Luxus frönt. Die Familie wird berühmt dafür, berühmt zu sein: Kris’ Töchter Kourtney, Kim und Khloé erfinden das Influencertum, als es noch kein Wort dafür gibt. Die beiden Jüngsten, Kendall und Kylie Jenner, werden später zu den erfolgreichsten Social-Media-Stars überhaupt heranwachsen. Bruce dagegen bekleidet über all die Jahre die Nebenrolle als biederer All-American-Dad. Bis er sich dazu entschliesst, seine Bruce-Figur zu töten.

Nach zwanzig Jahren Ehe gesteht er seiner Frau, nicht mehr länger als Mann leben zu wollen. Er verliert die dritte Frau an seinen Wunsch. Diesmal zieht er sein Vorhaben durch: Er beginnt eine Hormontherapie, lässt sich die Haare verlängern und den Adamsapfel entfernen. Noch gelangen bloss Gerüchte an die Öffentlichkeit. Kaum jemand glaubt ernsthaft an eine Geschlechtsumwandlung des Jahrhundertsportlers.

Dann gesteht Bruce Jenner im April 2015 in einem Fernsehinterview mit Diane Sawyer: «Ich bin eine Frau.» Es ist das letzte Interview, das Bruce gibt. Im Juni ziert eine perfekt gestylte Frau im seidenen Korsett das Cover der «Vanity Fair». «Call me Caitlyn», steht darunter. Das liberale Amerika jubelt ihm zu.

Bruce Jenner on the cover of Vanity Fair: "Call me Caitlyn" http://t.co/N3hZVcswrp pic.twitter.com/KtQmB8V8qT

— The Washington Post (@washingtonpost) June 2, 2015

«Ich werde nie gleich sein wie andere Frauen»

Caitlyn Jenners Outing macht sie zur gefeierten Vorzeigefrau der LGBTQ-Community. Der Inbegriff der Männlichkeit ist über Nacht zum Inbegriff von Genderfluidität geworden. Doch die Jubelrufe verstummen bald.

Die Entzauberung der Trans-Ikone beginnt nicht einmal ein Jahr nach dem «Vanity Fair»-Cover. Im März 2016 erzählt Caitlyn Jenner, dass sie den republikanischen Senator Ted Cruz möge. Als Jenner schliesslich auch noch Donald Trumps Kandidatur für die Präsidentschaft unterstützt, verwandelt sich die Begeisterung linker Kreise in pure Entrüstung.

In einem Gastbeitrag in «USA Today» schreibt Caitlyn Jenner: «Mein Comingout als Republikanerin war noch schwieriger als dasjenige als Transgender.» 2021 will sie Kaliforniens Gouverneurin werden, sie scheitert. Im selben Jahr äussert sie sich erstmals gegen Transpersonen im Frauensport.

Caitlyn Jenner aber geht weiter, als nur die Sportwelt anzugreifen. Sie bezeichnet sich selbst als «biologischen Mann» und weigert sich, den Begriff «LGBTQ-Community» zu verwenden. Eine Community sei es nicht. Die linken Transaktivisten seien eine «radikale Regenbogen-Mafia», die letztlich nur einen kleinen Teil aller Transpersonen darstelle.

Just bc we don’t support biological men in women’s sports doesn’t mean we are anti-trans. We are anti- radical rainbow mafia and against the radical gender ideology movement and want the kids left alone! @KariLake comments here are not at all inconsistent with those values! https://t.co/E2uaSro6qL

— Caitlyn Jenner (@Caitlyn_Jenner) August 3, 2023

Doch nicht alles, was Caitlyn Jenner sagt, gefällt den Konservativen. Zum Beispiel, wenn sie über ihre Genderdysphorie spricht: Sie litt über Jahrzehnte daran, dass ihr gefühltes Geschlecht nicht mit jenem ihres Körpers übereinstimmte. Das fühle sich an, wie wenn jemand Rechts- oder Linkshänder sei, ohne erklären zu können, weshalb.

Caitlyn Jenner ist kein Inbegriff: weder von Männlichkeit noch von Diversität. Als Trans-Ikone taugt sie nicht, und die Konservativen? «Sie wollen mich auch nicht», sagt Jenner.

1976, als sie sich strotzend vor Testosteron als Frau fühlte, passte ihr Inneres nicht zu ihrem Körper. Und nun, als Transfrau mit konservativen Ansichten, passt ihr Körper nicht zu ihrem Inneren.

Passend zum Artikel

Der Filmemacher Matt Walsh fragt Ärztinnen, Politiker und Transgender-Aktivistinnen, was eine Frau sei. Antwort bekommt er keine. Viele brechen das Interview ab Die Frage ist einfach, aber eine Antwort darauf will heute kaum mehr jemand geben: Was ist eine Frau? Ein Film, der sich der Frage widmet, wird von den Medien ignoriert.

Simon M. Ingold

4 min

Der Leichtathletik-Weltverband schliesst Transfrauen von Wettkämpfen aus – Biologie kommt vor subjektiver Identität In der Leichtathletik soll die Fairness gegenüber Frauen besser geschützt werden. Deshalb dürfen Frauen, die eine Geschlechtsumwandlung hinter sich haben, nicht mehr bei ihnen starten. Die Regeln für sogenannte Transsexuelle werden verschärft.

Remo Geisser

4 min

Die grossen Marathonläufe bieten eine nonbinäre Kategorie an. Das dürfte früher oder später zu Diskussionen führen Immer mehr Marathonläufe haben eine eigene Kategorie für Personen eingeführt, die sich weder als weiblich noch als männlich definieren. Solange es keine Preisgelder zu gewinnen gibt, ist das ein Erfolg.

Anton Beck

Transgender im Frauensport: warum Caitlyn Jenner gegen ihresgleichen kämpft (2024)

References

Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Zonia Mosciski DO

Last Updated:

Views: 5800

Rating: 4 / 5 (71 voted)

Reviews: 86% of readers found this page helpful

Author information

Name: Zonia Mosciski DO

Birthday: 1996-05-16

Address: Suite 228 919 Deana Ford, Lake Meridithberg, NE 60017-4257

Phone: +2613987384138

Job: Chief Retail Officer

Hobby: Tai chi, Dowsing, Poi, Letterboxing, Watching movies, Video gaming, Singing

Introduction: My name is Zonia Mosciski DO, I am a enchanting, joyous, lovely, successful, hilarious, tender, outstanding person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.